Tsum Valley: eine (doppelte) Segnung und ganz viel Om Mani Peme Hum

November 2022, Patricia Zenger

Wir sind unterwegs im Tsum Valley, einem herrlich schönen Tal im Norden Nepals. Frauen tragen schwer beladene Körbe auf dem Rücken. Gefüllt mit dicken Holzscheiten, die sie dem wenigen Wald in dieser Höhe abtrotzen. Viel Arbeit, um nur schon eine warme Mahlzeit zuzubereiten. Zum Heizen des Esssaals für uns verwöhnte Touristen reicht das Holz nicht. So sitzen wir bei fünf Grad dick eingemummt im Raum. Anders als die Dorfbewohner gehen wir nach einigen Wochen «Entbehrungen» wieder zurück in unsere geheizten Wohnungen, während den Talbewohnern ein harter Winter naht.

Zweimal am Tag essen die Nepali ein Dal Bhat. Ihre Nationalspeise. Linsen mit Reis, Pickles, Gemüse. Immer frisch à la Minute und immer unterschiedlich, je nach Hausrezept und je nach saisonalem Angebot ihres kleinen Gemüsegartens zubereitet. Mit Sicherheit biologisch. Und immer vegetarisch. Denn seit 100 Jahren darf im tief buddhistischen Tsum Valley kein Tier geschlachtet werden. So treffen wir auf viele glückliche Yaks und Hühner. Und ebenso glückliche Vegi-Hunde, die täglich die Reste des Dal Bhat vorgesetzt bekommen.

Auf unserer fünfstündigen Wanderung von Lokpa nach Chumling werden wir von einer Festgemeinschaft und einem wacker wandernden 4-Jährigen mit kurzen Beinen locker überholt. Die Frauen tragen wie immer ihre klassische tibetische Kleidung. Ein schwarzes Filzkleid, darüber eine gestreifte Schürze und heute eine extra festliche Bluse, ein Metallgurt mit einem angehängten Silberlöffel dazu ein farbiges Kopftuch. Die Männer sind heute ausnahmsweise nicht westlich sondern ebenso traditionell gekleidet, mit einem knielangen roten oder schwarzen Filzmantel, einen Arm in den Mantel gesteckt, ein Gurt um die Hüften. Die Stimmung in der Wandergruppe ist fröhlich und wie immer in Nepal schwatzt Jeder mit Jedem (auch mit Wandertouristen, die ein paar Wörter und Sätze auf Nepali radebrechen) der da des Weges kommt. Immer gibts was zu erzählen. Neuigkeiten und Infos sind zu teilen. Vieles läuft hier analog statt digital.

Wir schauen gespannt den drei jungen Frauen zu, die kurz vor Chumling noch die letzten Vorbereitungen treffen. Die Schürze wird richtig festgebunden, die farbigen Stoffzottel am Ende des hüftlangen Haarzopf gerichtet, die reich verzierten Ohrringe werden angezogen. Hunderte Talbewohner aus den umliegenden Dörfer treffen sich zur fünftägigen Zeremonie in Chumling. Ein hoher Rinpoche (ein wiedergeborener Lama/Priester) nimmt heute die Segnung vor dem Kloster vor. Wir treffen rund dreihundert still auf dem Boden sitzende Gläubige, Frauen, Männer, Kinder, Familien, Jugendliche, Alte. Es wird gemeinsam gebetet, Schals und Geschenke werden dem Rinpoche übergeben. Er und die Mönche gehen durch die Reihen und halten einen Kelch an jeden einzelnen Kopf, sprechen dabei einen Segen. Dazu gibts ein Stück der süssen Opfergaben und Glückssymbole in Form einer rote Schnur mit einem Mantra im Knoten und einer Halskette mit Anhänger. Dawa unser Guide ist aufgeregt. Die Segnung durch einen so wichtigen Rinpoche bedeutet ihm viel. Der Rinpoche mit seinem Kelch nähert sich unserer hintersten (Touristen-)Reihe, nickt und auch wir beugen alle den Kopf. «Oh no… I forgot to take off my cap!» sagt ein verzweifelter Dawa nach der Segnung. So mischen sich Dominik und Dawa unter die kichernden Jugendlichen, die sich ein zweites oder drittes Mal verstohlen in die Schlange vor dem jetzt wieder auf seinem Thron sitzenden Rinpoche einreihen. Wegen der Segnung. Oder der süssen Opfergabe, die sie wiederum kriegen? Dawa lacht befreit und gesegnet. Die Gesellschaft löst sich langsam auf. Der Rinpoche beendet in aller Ruhe seine Rituale. Auch wenn längst niemand mehr zuschaut und sich alle bereit machen für den Tanz, fürs Singen. Am Ende des Tals leuchtet das Alpenglühen am schneebedeckten Sringi-Peak.

Vier Stunden und viele strenge Höhenmeter bringen uns zur Lungdang Gompa, einem Nonnenkloster auf 3200 Meter. Hier ist es windig und kalt, abends beginnt es zu schneien. Trotzdem, vier Nonnen leben hier ganzjährig, während dem heiss-nassen Monsun und dem kalten Winter. Oft ist der Fussweg zu gefährlich oder wegen Erdrutschen unterbrochen um ins Dorf zu gelangen. Seit 15 Jahren wohnt die eine Nonne schon hier, einiges länger – ihr Leben lang? – die einzige Nachbarin. Ein altes Fraueli mit unzähligen Falten im Gesicht und einem herrlichen Lachen. Frühmorgens schon ist sie im Kloster anzutreffen, die Gebetskette zwischen den Fingern drehend und das buddhistische Mantra «Om Mani Peme Hum» murmelnd. Mit Gehstock und hinkend, umrundet sie die grosse Gebetsmühle im Kloster. Eine Runde, zwei, drei, vier… wir hören auf zu zählen.

Nachmittags treffen wir das Fraueli vor ihrer Hütte, tief über ein Holzscheit gebückt, beim Holzhacken. Dominik geht hoch und fängt an Holz mit der stumpfen Axt zu spalten. Das Müetterli setzt sich an die Hauswand, deutet auf die Beige mit den knorzigen Holzträmeln, lacht und murmelt ihr stetiges «Om Mani Peme Hum». Ich setze mich neben sie auf den kalten mit Stroh gefüllten Reissack und ziehe an der speckigen Kurbel um ihre kleine Gebetsmühle zu drehen. Sie lacht und murmelt weiter und weiter. Om Mani Peme Hum. Dazwischen ein Gähnen, das gleich wieder ins Om übergeht.

Tsum Valley bedeutet enges Tal. Es ist aber auch ein steiles Tal. Wenig verwunderlich, dass links und rechts des Weges massive Erdrutsche sichtbar sind und das Tal bis vor kurzem wegen des ausserordentlich langen und starken Monsuns erneut von der Aussenwelt abgeschnitten war. So führt uns der Wanderweg immer wieder über beeindruckende Erdrutsche und unzählige Hängebrücken. Mit der Zeit überschreite ich die teils sehr langen und hohen Brücken schon etwas lockerer. Immer murmelnd: «Om mani peme hum. Om mani peme hum».